Von sexy Helden und gelähmten Frauen
– Noemi Smolik

2007 erschienen in der überregionalen russischen Presse 428 Artikel über Glamour, im Internet sogar mehr als 1.000. Das bewog russische Journalisten Glamour zum »Wort des Jahres« zu erklären. In den Talkshows, auf den Seiten der Hochglanzmagazine, während der Ausstellungseröffnungen überall schien es zu glamouren. Ja selbst Vladimir Putin setzte während seiner Wahlkampagne vor der Präsidentenwahl im Jahre 2008 eindeutig auf Glamour. Das brachte die russische Kulturkritikerin Olga Mesropowa dazu, Glamour als »dominanten ästhetischen Modus« der postsowjetischen Gesellschaft zu bezeichnen.

Glamour ist jedoch nicht nur eine Erscheinung, welche die postsowjetische Gesellschaft immer mehr durchdringt. Spätestens seit den 80 Jahre begann sich auch in den westlichen neoliberal kapitalistischen Gesellschaften Glamour, der früher auf die Filmindustrie beschränkt war, nicht nur verstärkt in den Massenmedien auszubreiten, sondern im gesamten kulturellen Leben. Man sprach zum Beispiel vom Glamrock und meinte damit etwa die Auftritte der Popmusiker David Bowie oder Iggy Pop. Glamour schlich sich auch immer mehr in die westliche Kunst ein. Andy Warhol galt als glamourös, genauso wie diejenigen, die sich von ihm porträtieren ließen. Erinnert sei auch an die  Ausstellungsräume mit aufgereihten Luxuseinkaufstüten von Sylvie Fleurie oder an einige Filme des italienischen Künstlers Francesco Vezzoli. Kein Wunder, dass im Jahre 2004 das Züricher Migros Museum für Gegenwartskunst die Ausstellung The Future Has a Silver Lining Genealogies of Glamour ausrichtete, die dem gegenseitigen Verhältnis zeitgenössischer Kunst und Glamour nachging. Dabei war Glamour für die klassische Moderne, zumal für die kritische Theorie wenn nicht gerade ein Ausdruck eines falschen Lebens so doch ein Tabu und das obwohl der Surrealismus bereits auf Glamour setzte, ganz abgesehen davon, dass auch schon die Pop Art in den 60 Jahren Glamour bewusst als eine künstlerische Strategie einsetzte.

Doch was ist eigentlich Glamour? Eine zweischneidige, daher höchst ambivalente Angelegenheit. Das geht schon aus der Etymologie des Wortes Glamour hervor. Glamour leitet sich von dem schottischen Wort grammar ab, das im Mittelalter die Regeln der katholischen Scholastik bezeichnete, bevor es von protestantischen Propagandisten in Bezeichnung für böse Magie und Zauberkunst umgedeutet, also negativ besetzt wurde. Doch was ist Magie? Magie will verzaubern, deswegen erzeugt sie Natur übersteigende, verführerische Effekte. Gleichzeitig hofft sie, durch die Verzauberung, die in rituellen Handlungen Mittels Verführung geschieht, die Natur und mit ihr auch den Menschen kontrollieren zu können. Magie hat also einiges mit Macht zu tun, gleichzeitig jedoch, da sie erfinderisch sein muss, kann sie durchaus kreativ und experimentell sein, ja sie kann sogar emanzipatorische Impulse freisetzen. Und diese Ambivalenz eines Machtanspruchs, der Affirmation, ja Unterwerfung erwartet, auf der einen Seite und emanzipatorischer Impulse auf der anderen, sollte man vor Augen haben, wenn man über Glamour spricht.

Denn das hilft zu verstehen, warum Glamour gerade die postsowjetische russische Gesellschaft heute stärker als andere Gesellschaften im Atem hält. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Ideologie, die in Wirklichkeit eine Ersatzreligion von ausgeprägt magischer Wirkung war, entstand eine Leere und Haltlosigkeit, die den tief verunsicherten Menschen in ein Dilemma stürzte: entweder schnell wieder nach einem neuen Magier zu suchen, der einem den verlorenen Halt wiedergibt, oder in der Leere und Haltlosigkeit ein Sprungbrett in die Emanzipation zu sehen. Und da wird Glamour von Bedeutung, denn Glamour verspricht beides: Halt durch Affirmation wie auch den Sprung in die Emanzipation, hält jedoch das Versprächen in beiden Fällen nicht ein, denn es handelt sich dem Wesen nach bei Glamour um Magie, die wie bekannt mit Tricks arbeitet, welche die Angewohnheit haben, früher oder später wie eine Seifenblase zu platzen. In der Ausstellung „… nach Glamour“ sind es genau diese Momente, welche die Tricks als das zeigen was sie sind – nämlich nach Parfüm einer Luxusmarke duftenden Seifenblasen, wobei in dieser Ausstellung auch die emanzipatorischen Elemente, dieses Janusköpfige des Glamours, zum Vorschein kommen.

Glamour setzt auf Verführung. Daher ist Sex immer im Spiel, denn was ist entwaffnender als sexuelle Verführung? Auch Putin setzte bewusst während seines Wahlkampfes auf Sex. Wie ein Hollywoodheld inszenierte er, dem Sexappeal eines James Bond nacheifernd, seine sexualisierte männliche Potenz. Eben wie ein Hollywoodschauspieler – der US-Amerikanische Präsident Ronald Reagan war wenigstens ein echter Hollywoodschauspieler – trat er in verkitscht idealisierten Aufnahmen, die ihn beim Steuern eines Flugzeugs, Schießen oder mit nackten Oberkörper beim Fischen zeigten und auf die jeder Hollywoodfilmemacher der 50 Jahre des vorigen Jahrhunderts neidisch sein könnte. Auf dieses Protzen mit männlicher Potenz reagierte 2014 der Künstler Vikenti Nilin mit einer bitterbösen Parodie. Er baute eine Vorrichtung, die vor einem Spiegel ein Gewicht von 20 Kilogramm hält. Als Mann kann man seinen erregierten Penis durch den Griff des Gewichts stecken und – wow!  – es sieht in dem davor stehenden Spiegel so aus, als ob der Penis das Gewicht halten würde. From the selfie machine series heißen dann die so entstandenen Fotos.

Da es bei Glamour um Sex geht spielt der menschliche Körper eine zentrale Rolle. Der glamouröse Körper ist hohen Erwartungen unterworfen. Im Falle von Putin dem männlichen Potenzzwang doch wie ist es bei dem weiblichen Körper? Der weibliche Körper wird diszipliniert, rasiert und operiert, um jenem Schönheitsideal zu entsprechen, wie ihn die Welt des Glamours erwartet. Als eine Opposition zu dieser Erwartung sind daher die Bilder von Viktor Kirillov-Dubinskiy zu sehen. Es sind schwarzweiße aufwendig gemalte, Fotoaufnahmen imitierende Bilder, die wie die Serie Creation of the World von 2015 nackte weibliche oft obszön unperfekte Körper zeigen, die dem glamourösen Schönheitsideal ein Hohn sind. Man ist seltsam, fast peinlich berührt, ja irritiert bei diesen Bildern; aber weniger durch das Obszöne, vielmehr durch das Unperfekte des Körpers. So sehr hat man sich an die perfekte weibliche Körper der glamourösen Welt gewöhnt und das obwohl sie im nichtglamourösen Leben eher eine Ausnahme sind.

Nicht nur ein perfekter Körper, sondern auch die Kleidung ist für das glamouröse Erscheinen entscheidend. Möglichst schrill, aus teurem Material, den weiblichen Sexappeal durch tiefe Ausschnitte und  hohe Absätze betonend, soll die Kleidung sein, die so zur Verkleidung wird. Die Künstlerin Anna Zholud führt mit ihrem Objekt Iron Wedding von 2008 all dies ad absurdum. Sie zeigt eine Kleiderstange mit Bügeln aus Draht, auf der lange Kleider allerdings nur durch weißen Draht in ihren Umrissen angedeutet hängen. Sie verkleiden nicht, ihre potentiellen Trägerinnen sind nackt, nackt wie in dem Märchen Des Kaisers neue Kleider.

Anders geht mit solchen Erwartungen die Künstlerin Olya Kroytor um. Sie reizt in ihren Performances das Glamouröse bewusst aus. So hängt sie in einer gestylten Aufmachung mit langen offnen Haaren selbstbewusst in einer Höhe von mehr als 3 Metern an einer Wand. Sie ist von einem Lichtspot beleuchtet, daher strahlt sie, obwohl sie eher an eine Gekreuzigte erinnert. Von ihrem Leib rollt ein roter Teppich bis auf den Boden und lädt zum Betreten ein. Eben jener Teppich, auf dem die Filmstars ihre glamourösen Auftritte zelebrieren und den man daher als einen der ultimativen Orte der Eitelkeiten bezeichnen kann. Isolation heißt diese Performance von 2014.

Doch so eindeutig als kritische Distanz zu glamourösen Auftritten ist das Werk von Kroytor nicht. Das Ambivalente des Glamours kommt hier zum Vorschein. Denn Glamour kann bei Frauen das Interesse für den eigenen weiblichen Körper und mit ihm für die eigene weibliche Sexualität wecken. Das kann zumal in Russland nach Jahrzehnten sowjetischer Unterdrückung jeglicher weiblichen sexuellen Regung durchaus emanzipierend wirken. Wie die Kunsttheoretikerin Marion von Osten während des Symposiums, das die am Anfang erwähnte Ausstellung The Future Has a Silver Lining Genealogies of Glamour im Migros Museum begleitete, überzeugend zeigen konnte, waren es in den 30 Jahren des vorigen Jahrhunderts gerade Hollywoodfilme, in denen glamouröse Frauen auftraten, die zur beruflichen Emanzipation und sozialem Aufstieg von Frauen beigetragen haben. Glamour wurde in diesen Filmen als erlernbar und daher auch für kleine Fabrikarbeiterinnen verfügbar dargestellt.

Ähnliche Aufgabe kann Glamour heute in der postsowjetischen russischen Gesellschaft erfüllen. Das zeigt das Beispiel der Journalistin und Talkshowmasterin Xenia Sobtschak, der Tochter des früheren St. Petersburger Bürgermeister Anatolij Sobtschaks, die als bekennendes Glamourgirl heute eine engagierte kritische Position einnimmt. Zusammen mit Oksana Robski veröffentlichte sie das Buch Wie angele ich einen Millionär?, das eine ironische Anspielung auf Versuche ist, durch den Einsatz weiblichen Sexappeals den sozialen Status durch Heirat zu verbessern.

Verführung setzt auf Schein. Daher ist beim Glamour der Lichtstrahl, das Glitzern, das Blenden immer gegenwärtig. Ein leuchtend roter Nagellack oder ein Lippenstift sind solche glamourösen Instrumente, die das Nichterwünschte, der Norm Nichtensprechende überblenden können. Nagellack und Lippenstift – Sinnbilder des Glamours. Elena Berg klebt flächendeckend künstliche farbige Fingernägel auf Leinwände und nennt so ein 2012 entstandenes Bild Illuvium. Die aufgeklebten Fingernägel erinnern an Krallen und vermitteln so etwas Aggressives. Jewgenija Tschuikowa malt sozusagen mit ihren Lippen, die mit rotem Lippenstift geschminkt sind. Sie küsst die Leinwände womit sie ihre Energie auf die Flächen ihrer Bilder überträgt. Die Titel der jeweiligen Bilder geben dann die Zahl der Küsse, den Name und die Nummer des jeweiligen Lippenstiftes wieder. Zum Beispiel wie bei der Serie Dolce Vita Red 48466 von 2008/2011 15619x First Love 419, 10905x Innocence 351. Auch baut sie Objekte, die aus Beton, in das Nagellackfläschen eingelassen sind und in ihrem gewollten Kaputtsein eher an Zerstörung erinnern. Anders geht Leonid Sokhranski mit dem leuchtenden Glanz um. Er lässt 2016 aus Polyester in kitschig leuchtenden Farben ein am Kopf verwachsenes Zwillingspaar formen. Das künstliche Schönheitsideal knallt hier, wie auch in den Betonobjekten von Tschuikowa auf eine brutale Weise mit dem Deformierten zusammen.

Glanz und Glitzer sind nie weit vom Kitsch entfernt. Kitsch kann durch Anbiederung und Verniedlichung verführen. Plüschtiere in süßen Bonbonfarben sind zum Beispiel solche kitschigen Objekte. Rostan Tavasiev setzt drei rosaroten Plüschhasen auf drei Tretgestelle, die durch ihr Treten die Projektion eines Filmes am Laufen halten. Was zeigt die Projektion? Plüschtiere. Cinema heißt diese Installation von 2006. Glitzer, Glanz, schrilles Auftreten und Kitsch werden oft von sozialen oder geschlechtlichen Randgruppen wie zum Beispiel Transvestiten eingesetzt um bewusst ihre Nichtbereitschaft, bestimmte Normen zu akzeptieren, zu manifestieren. In solchen Fällen kommt eher das Emanzipatorische des Glamours zum Vorschein.

Eine Begleiterscheinung des Glamours ist die Nostalgie, zumal in Gesellschaften deren Gegenwart sich wie in der postsowjetischen durch Brüche und Umbrüche auszeichnet. Da sehnt man sich nach Zeiten als es noch eine Ideologie, Religion oder Magie gab, die Halt versprach. Daher versetzt man sich in solche Zeiten, etwa in die Zeit der männlichen Hollywoodhelden als man sie noch unangefochten – es gab noch keine Verunsicherung durch die feministischen Kritik – für wahre Helden hielt, oder in die 30 oder 50 Jahre des vorigen Jahrhunderts als es Frauen noch möglich war, durch den Einsatz ihrer glamourösen Reize sozial, ob durch ein Job oder durch eine Heirat aufzusteigen. Auch Andrey Kuzkin manipuliert die Zeit; er verpackte 2011 in einer Aktion mit dem Titel  ALL AHEAD! seine gesamte Habe, selbst seine frisch abrasierten Haare, in verschieden große Metallboxen, die anschließend verschweißt wurden. Sie werden als Kunstwerk ausgestellt und man kann sie auch einzeln als ein Kunstwerk kaufen. Aber, erst nach 29 Jahren darf man sie öffnen. Und um Nostalgie und um Zeitanhalten geht es auch in der Fotoserie Tin lids von Vadim Gushchin. Sie zeigt Deckel von Einmachgläsern, die Mangels frischer Obst und Gemüse zum sowjetischen Alltag gehörten und als konservierte Ware die Zeit real anhalten konnten.

Glamour bedeutet immer eine Verstellung, die eine Distanz zu dem Ursprünglichen, etwa dem unperfekten Körper, erzeugt. Um diese Distanz zu überbrücken kann man sich des Sexappeals, des Kitsches oder der Nostalgie bedienen. Man kann aber auch mittels einer Parodie, Maskerade – der sich zum Beispiel die Transvestiten bedienen – oder auch einer Ironie diese Kluft zwischen dem Ursprünglichen und dem Glamourösen überbrücken. Bei vielen der hier besprochenen Werke, etwa bei dem 20 Kilo haltenden Penis von Nilin ist Ironie im Spiel. So auch bei den Arbeiten von Konstantin Latyshev. In seinen Drucken, die eine Mischung aus Pop Art und sozialistischem Realismus sind, geht er den Auswirkungen des Glamours ironisch nach. Etwa wenn er das Gesicht einer Frau zeigt, dessen eine Hälfte wie von einem Blitz getroffen erstarrt zu sein scheint.  »Sie habe Putin gesehen«, steht drunter geschrieben. Eben, da kommt das Ambivalente des Glamourösen zum Vorschein: wer sich auf das glamouröse Versprechen einlässt, kann gewinnen, geht aber auch gleichzeitig die Gefahr ein, gelähmt zu werden.

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