Stillleben nach der Schlacht
– Anna Tolstova

Das Wort „Glamour“, das während der Neunzehnneunzigerjahre dank Hochglanzzeitschriften und Fernsehen Eingang in die russische Sprache fand und damals einen postsowjetischen, kapitalistischen Lifestyle sowie eine neue Konsumkultur propagieren sollte, ist mittlerweile aus der Alltagssprache und den Medien Russlands wieder fast verschwunden. An seine Stelle traten andere Wörter und Ausdrücke, die Rollenmodelle und Konsumideale einer nächsten Generation beschreiben, der Generation der russischen „Hipster“: Angesagt sind nun „neue Urbanistik“, „komfortables Milieu“, „rationeller Gebrauch“ und „ökologisches Bewusstsein“. Chic, Glanz und der zur Schau getragener Reichtum von Glamour gelten als hoffnungslos veraltet und/oder provinziell. Ein Gesicht auf einem Magazincover oder ein Interview in einer populären TV-Show haben aufgehört, Marker des sozialen Erfolges zu sein, der nunmehr an der Zahl von Abonnenten in sozialen Netzwerken und von Likes unter Internetpostings gemessen wird. Gleichzeitig hat die Selfie-Stange dem Celebrity-Kult, diesem Heiligtum des Glamour, einen tödlichen     Schlag versetzt: Wozu von einem Foto auf den Gesellschaftsseiten von Printmedien träumen, wenn doch jeder auf Instagram zum Star werden kann?

Als Virtuose der subversiven Affirmationen hat Konstantin Latyshev den letzten Höhenflug der Glaumour-Kultur in einer Mitte der 2000er entstandenen Serie „superelitärer, exklusiver, ultra-extra-plus Bilder“ noch rechtzeitig einfangen können. Das Gros dieser ironischen „Extra-Bilder“ im Geiste von Pop-Art ist „Moskauerinnen und Moskauern“ gewidmet. Die Rede ist von Personen, die Glamour in Reinform verkörperten – sowohl in der rauen Wirklichkeit als auch in Medien, auf Fernsehschirmen oder in der Internetfolklore, auf deren verbale und visuelle Sprache der Künstler zurückgreift. Als diese „Extra-Bilder“ mit idealtypischen „Moskauerinnen“ aus der Internetfolkore, mit knallrotem Lippenstift, Maniküre und Diamanten als ihre natürlich besten Freunde seinerzeit in einer schicken Moskauer Galerie präsentiert wurden, kamen wegen des offensichtlichen Glamour-Faktors von Latyshev Ausstellung Prototypen oder Imitatorinnen seiner Heldinnen (wie kann man hier Kopie vom Original unterscheiden?) zur Vernissage, sie klapperten selbstsicher mit ihren High Heels und ließen ihren Modeschmuck klimpern. Mit seinem hämischen Zerrspiegel, den er der Glamour-Ära hinhielt, nahm Latyshev aber auch die Selfie-Ära vorweg. Eine Brise Glamour sollte sich später bekanntlich noch in der „breiten Volksmasse“ der Internetbenutzer verbreiten.

Nichtsdestotrotz weisen russische Wörterbücher den Eintrag „Glamour“ bislang nicht als veraltet aus und der Begriff vermag nach wie vor die diskursive Energie jener Kunst zu mobilisieren, die einen ganzen Komplex von Problemen und Widersprüchen der neuen postsowjetischen Wirklichkeit deutlich machen will. Die Bandbreite liegt dabei zwischen offensichtlichen sozialen Ungerechtigkeiten, kultureller Vereinfachung wie Verflachung in Unterhaltungsformaten und der Propaganda konservativ-imperialer Werte. Denn hinter Glamour verbarg sich ein kulturelles Koordinatensystem, das sich durch einen ähnlich durchdringenden Charakter wie die Doktrin des sozialistischen Realismus auszeichnete. Im Unterschied zum Sozrealismus war Glamour jedoch  nicht von oben verordnet worden, sondern unerwartet von allen Seiten über die postsowjetische Gesellschaft hereingebrochen. In seiner Ende der 2000er durchgeführten Perfomance „Widerstand“ entfernt Andrey Kuzkin stundenlang und voller Hingabe Druckfarbe von Hochglanzzeitschriften, er verwandelt damit mediale Erzeugnisse voll verführerischem Glamour sukzessive in eine einzige Schmutzbrühe.

Es wäre falsch, Kuzkins perfomative Praxis als kritische Kunst zu bezeichnen, die mit dem gesamten Arsenal zeitgenössischer Gesellschaftstheorien und politischer Philosophie ausgestattet wäre. Viel eher handelt es sich hier um eine Kunst des romantischen Aufstands gegen den Stand der Dinge und sie steht genetisch mit dem „Moskauer romantischen Konzeptualismus“ (ein von Boris Groys geprägter Begriff) in Verbindung, mit dessen Eskapismus und Metaphysik. Als Stimme der Generation der Dreißigjährigen, die in einer Übergangszeit zwischen Glamour und Hipstertum erwachsen wurden, thematisiert Kuzkin in seinen Performances den romantischen Kampf gegen das Spießbürgertum, er versucht aus einer Welt der falschen Dinge auszubrechen und in eine Welt der authentischen existenziellen Erfahrung zu wechseln. Eine wichtige Etappe dieser Freisetzung des menschlichen Wesens aus der Gefangenschaft sozialen Scheins wurde seine Performance „Alles kommt noch“: Der Künstler mauerte sein ganzes bewegliches Vermögen, bis zum letzten Hemd und zur letzten Zeichnung, für geplante 29 Jahre (die Zahl hat eine Bedeutung in seiner privaten Numerologie) in einem Eisencontainer ein. Dieses Loswerden der in seinem bisherigen Leben akkumulierten materiellen Last sollte ermöglichen, praktisch wieder von Null anzufangen. Aber auch die Performances von Olya Kroytor zeichnen sich durch eine Entsagung des Irdischen aus, sie tendieren zu einem äußerst scharfen und spannungsgeladenen Durchleben des Seins: Die Künstlerin macht es einem Einsiedler gleich, der lebendig begraben wird, oder einem Säulenheiligen, der in atemberaubender Höhe über Menschenmassen ragt. Oder sie schwebt wie ein Engel in einem Ausstellungsraum – so hoch, dass ihr lediglich körperlose Wesen nahekommen können, die zuvor über einen in der Luft schwebenden Teppich schreiten müssen. Die „Eventwirtschaft“ mag zwar beliebige Formen des künstlerischen Eskapismus für ihre Zwecke einspannen, daran erinnern, dass im Zeitalter sozialer Medien die Entsagung des Weltlichen nicht mehr als eine Geste ist, und widerständige Künstler in Helden von Hochglanzzeitschriften verwandeln. Letztendlich löst sich dieser Lack des Glamours jedoch wie in Kuskins früher Performance von den bedruckten Seiten.

Der Begriff „Glamour“, der aus der Sphäre von Magie und Zauberei entstammt, kam in seiner aktuellen Bedeutung bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch. Seit dem Frühjahr 1939 erschien in den USA die Zeitschrift „Glamour of Hollywood”, deren Titel die Verbindung von Glamour mit Massenkultur, der Verehrung von Berühmtheiten, cineastischen Vorbildern von  Schönheit und „Stilikonen“ endgültig fixierte. Freilich diese neue Bedeutung des Wortes entstand etwas früher und nicht in den USA, sondern in Europa: Die ersten Schöpfer von „Glamour“ wirkten in Modezeitschriften der späten Weimarer Republik, etwa in „Die Dame”, „Sport im Bild“ und „Elegante Welt“. Diese Medien schufen eine Atmosphäre von kühler Eleganz, Stil, Chic, Freiheit und Unabhängigkeit, das waren jene Eigenschaften, die seinerzeit Christopher Isherwood in Berlin so sehr in ihren Bann gezogen hatten. Sie schufen eine Märchenatmosphäre vom Dolce Vita einer verlorenen Generation, an der sich jene berauschten, für die es steil nach unten ging, und die gleichzeitig als Vorlage für die Aufsteiger der damaligen Zeit fungierte. Eine analoge Rolle spielte Glamour auch im postsowjetischen Russland, in dessen Kulturschichten „Archäologen“ aus der Kunstszene noch reichhaltiges Material zur Geschichte sozialer Ungleichheiten und kultureller Konflikte ausgraben können. Denn in der materiellen Kultur dieser Übergangszivilisation, wo Tellerwäscher und Millionär jederzeit ihre Platz tauschen können, spiegelt sich nicht nur die Koexistenz, sondern auch die wechselseitige Durchdringungen von Armut und Luxus, von Mangelwirtschaft und Überfluss, von strengem Sparen und ostentativem Konsum.  

Für Vadim Gushchin erweisen sich Verschlusskappen von Gläsern mit Marmelade oder Salzgemüse als Zeitdokument, sie sind ein unerlässliches Attribut von Moskauer Küchen, dem traditionellen Ort für Treffen und Gespräche der sowjetischen Intelligenzija. Wobei es sich um exakt datierte Dokumente handelt, wo jeweils festgehalten ist, wann die jeweilige Hausherrin diese oder jenes einkochte oder  -legte. Bei Elena Berg materialisiert sich die Zeit hingegen in künstlichen Fingernägeln. Diese waren in Mode gekommen als sich die russische Frau einen Status als teure Ware wieder angeeignete, der zuvor durch die deklarierte sowjetische Gleichstellung der Geschlechter aufgehoben worden war.  Aus einer großen Anzahl künstlicher Nägel bei Berg entsteht eine minimalistische Tafel mit Rot und Schwarz, die auf die „Quadrate“ von Malewitsch verweisen. Guschtschins Kreise mit Verschlusskappen lassen sich ebenso als Anspielung auf Abstraktionsexperimente der russischen Avantgarde verstehen. Sowohl Deckel als auch Nägel spielen hier die Rolle von Index-Zeichen, die auf Frauenhände und die Frau als obskures Objekt der Begierde verweisen. Beide Spielarten dieser „gegenständlichen Gegenstandslosigkeit“ zeichnen in durchaus realistischer Manier völlig unterschiedliche Stereotypen der Hausfrau: Gushchin reproduziert ein sowjetisches Stereotyp, das den Platz der „echten Frau“ in der Küche am Herd sieht, Berg ein hingegen postsowjetisches, das der „echten Frau“ gestattet, im Schlafzimmer die Oberherrschaft zu übernehmen.

Eine ähnliche Opposition bilden aber auch die Index-Zeichen in den Arbeiten von Vikenti Nilin und Jewgenija Tschuikowa. Ein Objet trouvé des begabten Archäologen des Alltags Nilin, der in irgendeinem Kasten auf einen Kleiderbügel gebundene Gürtel längst abgetragener oder verlorener  Kleider fand. Sie werden für den Fall des Falles aufbewahrt und verweisen auf Armut, Unsicherheit und permanentes Warendefizit im Land, in dem alle wirtschaftlichen Ressourcen für die  Militärindustrie verwendet werden. Dieses aus anthropologischer Sicht äußerst wertvolle Fundstück zeigt, dass Ilja Kabakow unter anderem mit seiner Erfindung des „Menschen, der niemals etwas wegwarf“ im Grunde genommen ein realistischer Künstler war. Die einfärbigen, knallroten Bilder von Tschujkowa verweisen hingegen auf eine Überproduktion von erotischen Motiven in der Werbung eines Landes, das in den Jahren der primären Akkumulation des Kapitals von allen verbotenen Früchten genascht hat: Bei genauem Hinsehen entpuppen sich die pointillistischen  Abstraktionen als Küsse mit Lippenstift auf Leinwand. Die Spuren des Lippenstift verbleichen zunehmend, sie zeugen vom Verbrauch des Materials, abflauenden Gefühlen und der Vergänglichkeit glamouröser Versuchungen.

Nach dem Glamour bleiben trübe Spuren von Druckfarben, verwischter Lippenstift, abbröckelnder Lack für Fingernägel, aber auch Kitsch. Dieser kann sarkastisch und angsteinflößend sein, etwa in den monströsen Figuren aus Leonid Sochranskis Schauerkabinett, die aus einer Bonbon-artigen Masse bestehen. Oder auch scherzhaft, etwa in der Installationen von Rostan Tavasiev, wo rosa Plüschhasen wie Eichhörnchen in einem Laufrad in die Pedalen eines mit einem Filmprojektor verbundenen Hometrainers treten, um sich einen Film darüber anzusehen, zu welchem Ideal rosa Plüschhasen streben sollten. Keine Erscheinung der sichtbaren Welt, das wissen wir aus der Kunstgeschichte, wurde derart künstlerischer Gewalt ausgesetzt wie der menschliche Körper, dessen rohe Realität jede künstlerische Epoche und jeder Stil transformiert hat –  jeweils in Einklang mit gerade aktuellen Vorstellungen vom Ideal, von Schönheit und von     Harmonie. Die Epoche des Glamours sorgte jedoch für einen Eingriff in das Leben selbst, in dem Millionen von Konsumenten Normen idealer Proportionen aufgedrängt wurden. In der fotorealistischen Malerei von Viktor Kirillov-Dubinsky erscheint ein ungeschminkter Körper, der gegen glamouröse Normen rebelliert. Just dieser  Körper erlangt in seiner dokumentarischen Authentizität psychologische Züge und wird zur Vorlage für ein Porträt, womit ein über Jahrhunderte entstandenes Genresystem unterminiert wird. Die Subversion kulminiert in der Serie „Die Schaffung der Welt“, die auf „Der Ursprung der  Welt“ von Gustave Courbet verweist: Ein Gesicht, das im Bild schamvoll verdeckt wird, fügt dem Porträt letztendlich nichts hinzu – ganz im Unterschied zu jenem üblicherweise Verdeckten, das der Revolutionär aus dem „Pavillon du réalisme“ erstmals dem Betrachter zu zeigen wagte.  

Nach dem Glamour bleibt aber auch Leere zurück. Anna Zhelud reproduziert nach einer konkreten Methode ein „System der Dinge“ der Verbrauchergesellschaft, das durchaus glamouröse Vorstellungen von Glück und Wohlergehen beinhaltet. Die nur mit Konturen gezeichneten Dinge erweisen sich jedoch, wie auch das System selbst, als betrügerisch und gespensterhaft. Zheluds Konturenskulpturen gehen dabei auf die Konturenzeichnung des 18. Jahrhunderts zurück. Diese Mode, die mit der Beschäftigung mit antiker römischer Vasenmalerei ihren Anfang nahm, eroberte in Folge ganz Europa und damit auch das Herzen Goethes und der deutschen Romantiker: In Konturen, die das eigentliche Wesen des Gegenstands fassten, wurden große Hoffnungen gesetzt – es schien, dass die Kunst eine neue philosophische Sprache gefunden habe, die mit der Literatur konkurrieren könne. Diese Möglichkeiten der Konturenzeichnung wurden sofort auch von Modezeitschriften der Napoleonischen Zeit erkannt – die klar definierte Form und der exakte Schnitt waren nicht minder wichtig als eine klar definierte wissenschaftliche Aussage oder ein exakter militärischer Befehl. In dem sie sich der Kontur bedient, zeigt Zhelud in aller Klarheit die Leere einer äußeren Welt, aus der alles Menschliche entfernt wurde. Sogar die Hochzeit, eines der Lieblingssujets von Glamour-Medien, verwandelt sich in das nackte Schema eines entmenschlichten Rituals.  

Anna Tolstova

(Aus dem Russischen von Herwig G. Höller)